DIE ZEIT 40/2005

"Herzlich willkommen im deutsch-deutschen Museum Mödlareuth", ruft Hauptmann Hermann jedes Mal in einer Lautstärke, dass auch die Besucher in den hintersten Reihen hochschrecken. Das makellos restaurierte Fachwerkhaus, das so friedlich in den vogtländisch-oberfränkischen Hügeln schlummert, wirkt vielleicht wie ein entlegenes Heimatmuseum. Aber das Wald-und-Wiesen-Kaff Mödlareuth mit seinen 50 Einwohnern und den schilfumrandeten, entengrützegrünen Teichen befindet sich an vorderster Front der noch immer nicht ganz vollzogenen Einheit. Was früher Zonenrandgebiet war, ist jetzt Mitte. Hier prallen das ganze Jahr über, täglich von 9 bis 18 Uhr, Welten aufeinander: die Wochenendgäste aus Plauen und Hof, die Schüler aus Gera und Bayreuth, die Busgruppen aus den Niederlanden und Tschechien, die Veteranen der U. S. Army und die der Nationalen Volksarmee.
Vor ein paar Wochen, nach Edmund Stoibers Wahlkampfattacke gegen die "Frustrierten im Osten", habe im Museum "Mord und Totschlag" geherrscht.

Da waren die Ostdeutschen so aufgebracht, dass die Westdeutschen gar nichts mehr zu sagen wagten. Doch auch an normalen Tagen ist es nicht leicht, die widerstreitenden Geschichtsbilder zu moderieren. Ingolf Hermanns Deeskalationstaktik beruht vor allem auf leiser Ironie. Dann erklärt der einstige Berufssoldat vom thüringischen Pionierregiment Plauen den bayerischen Betriebsausflüglern vom Truppenübungsplatz Grafenwöhr, welch ein Glück es sei, dass man heutzutage keinen selbst gebauten Heißluftballon mehr brauche, um von hüben nach drüben zu gelangen.
Wenn Hermann seine Gäste durch die Außenanlagen des Museums führt, von Mödlareuth West über die hölzerne Tannbachbrücke nach Mödlareuth Ost, dann ist das zugleich eine Führung durch die Vergangenheit zweier Staaten und zweier militärischer Blöcke, die sich hier wie auf einer Modelleisenbahnplatte überblicken lässt.

(Aus "Die Mauerschützer", Papierausgabe S. 82)

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Die Bilanz der Deutschen Einheit fällt aber auch in diesem Jahr durchwachsen aus. Wenn am 3. Oktober in Potsdam an die Wiedervereinigung erinnert wird, beim zentralen Einheitsfest mit Bundespräsident Wolfgang Köhler und einer Parade von mehr als 800 Musikern, werden sich unter die freudigen auch nachdenkliche und kritische Töne mischen: Der Osten gilt als Dauer-Sorgenkind. "Für viele Westdeutsche ist der Osten nur noch ein Klotz am Bein", resümiert der ostdeutsche SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Meckel.

Hohe Arbeitslosigkeit, die Einkommenskluft zwischen Ost und West sowie eine schwächelnde Wirtschaft bezeichnen nur einige Probleme, die Jahr für Jahr neue Missstimmung aufkommen lassen.


Viele Ostdeutsche fühlen sich mit ihren massiven Sorgen und Nöten von der Politik nicht ernst genommen. Mehrfach wurde auch während des Wahlkampfs von ostdeutscher Seite moniert, keine Partei habe eine Strategie für die neuen Länder. Allzu sehr verließen sich die großen Parteien auf ihre angestammten Rezepte für mehr Wachstum und Arbeitsplätze, die auch - aber eben nicht ausschließlich - den neuen Ländern zu gute kommen würden. Im Grunde spielte der Osten im Wahlkampf nur an einer Stelle eine herausragende Rolle: bei den Äußerungen des bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber über die "frustrierten" Ostdeutschen. Abseits solcher Schmähungen, die Bundeskanzler Gerhard Schröder als "ziemlich dummes Zeug" abtat, herrscht vor allem Ratlosigkeit.
(Aus "15 Jahre deutsche Einheit", ZEIT Online 40/2005)