[Büste: Kaiser Wilhelm II., um 1900]



[Gemälde: Otto Antoine "Leipziger Platz", um 1910]

[Photo: Max Missmann "Die Siegesallee im Berliner Tiergarten", 1905]

[Buch: Heinrich Mann "Der Untertan" (Buchdeckel), 1918]




Die Gesellschaft im Kaiserreich

Als reinste Verkörperung preußischer Tradition und Tugenden galt die Armee. In ihr als Offizier zu dienen, wurde als hohe Auszeichnung betrachtet. Die Militarisierung der Gesellschaft und die Identifikation mit dem wilhelminischen Staat reichten über die modischen Matrosenanzüge bis in die Arbeiterschaft, die von den Gewerkschaften immer weiter an den Staat herangeführt wurden. Aus der antagonistischen Klassengesellschaft der frühen Industrialisierung bildete sich eine differenzierte Schichtengesellschaft. Doch die soziale und politische Distanz zwischen Arbeiterschaft, Bürgertum und Adel war kaum zu überbrücken. Die von Liberalen und Sozialdemokraten geforderte Einführung einer parlamentarischen Regierungsform war im Kaiserreich nicht durchsetzbar.

Das Kaiserreich war ein wirtschaftlich prosperierendes Land. Während der von 1890 bis 1914 fast ununterbrochenen Hochkonjunktur überflügelten Industrie und Wirtschaft das bis dahin führende England. Dem starken Wirtschaftswachstum stand ein ebenso rasanter Aufschwung von Wissenschaft und Forschung zur Seite. Vor dem Ersten Weltkrieg ging für Naturwissenschaften jeder dritte Nobelpreis nach Deutschland. Die Fortschritte von Medizin und Hygiene ließen die Säuglingssterblichkeit deutlich sinken. Mit seinen 67 Millionen Einwohnern stand Deutschland 1914 unter den souveränen Staaten hinsichtlich der Bevölkerungszahl weltweit an vierter Stelle. Immer mehr Frauen wurden erwerbstätig.

Voller Widersprüche und Spannungen waren auch Kunst und Kultur. Dem Selbstverständnis der wilhelminischen Gesellschaft begegneten satirische Zeitschriften wie der "Simplicissimus" mit beißender Kritik. Der vom Kaiser favorisierten Historienmalerei und Heimatdichtung standen "Secession" und künstlerische Avantgarde gegenüber. Naturalistische Werke eines Gerhart Hauptmann waren für Wilhelm II. "Rinnsteinliteratur", eroberten aber gleichwohl die deutschen Bühnen und genossen auch international hohes Ansehen. Thomas Mann und Heinrich Mann zählten zu den Literaten, die kritisch auf die alten und neuen Autoritäten blickten und sich deutlich von der vorherrschenden deutschtümelnden Literatur unterschieden.

Dem barock-wilhelminischen, auf Repräsentation bedachten Baustil stand der eher nüchterne Jugendstil gegenüber. Lebensreformbewegung und Jugendbünde strebten zu einem neuen Selbstverständnis jenseits aller Konventionen. Zur Ambivalenz der Modernisierung zählte trotz der rechtlichen Emanzipation der Juden ein latenter, sich gelegentlich deutlich hörbar machender Antisemitismus, der in nahezu allen Schichten, Parteien und Verbänden vorhanden war.

Insgesamt zeigte sich das deutsche Kaiserreich unter Wilhelm II. so widerspruchsvoll wie der Monarch: Deutschland schwankte zwischen den Extremen einer überaus dynamischen Modernisierung und dem strikten Beharren auf längst unzeitgemäßen Traditionen. Vor allem in Preußen, dem mit Abstand wirtschaftlich stärksten und bevölkerungsreichsten Land, prallten industrieller Fortschritt und extrem konservative Agrarstrukturen hart aufeinander.

(ba)

Nach "Das Kaiserreich" (Deutsches Historisches Museum)

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