Wilhelm II. (1859-1941), deutscher Kaiser seit 1888,
verkörperte den Geist seiner Epoche in vieler Hinsicht. Er war ganz anders
als sein Großvater Wilhelm I. Der neue Kaiser war er ein Mann der öffentlichen
Pose, blendend und beeindruckend. Seine Neigung zu klirrendem Auftreten und
taktlosen Reden machten ihn in den Augen der liberalen Beobachter schnell suspekt.
In seiner Regierungszeit blieb die preußische Dreiheit von Kaiserhof,
Kasernenhof und Gutshof tonangebend. Der Potsdamer Gardeleutnant wurde zunehmend
zum gesellschaftlichen Leitbild. Pomphaftes Auftreten verdeckte den Mangel an
gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten und Üblichkeiten, wie
sie die politische Kultur von Deutschlands westlichen Nachbarn regulierten.
Zugleich bildete sich eine neue großbürgerliche Oberschicht aus
Industrie, Finanz und Wissenschaft heraus, die an Selbstdarstellung mit
der Aristokratie wetteiferte. Ihr Selbstbewußtsein ließ es zu, daß
auch jüdische Bürger in ihr aufsteigen konnten, wie der AEG-Direktor
Walther Rathenau oder Albert Ballin, Direktor der HAPAG-Reederei. Zwar war die
bürgerliche Gleichberechtigung der Juden in der Reichsverfassung
verankert, aber der latente Antisemitismus der wilhelminischen Gesellschaft
wurde manchmal öffentlich sichtbar, in vorübergehenden Wahlerfolgen
der Deutsch-Sozialen Partei des Hofpredigers Adolf Stoecker oder im Berliner
Antisemitismus-Streit von 1879.
Tradition und Moderne prallten aufeinander. Der Kontrast zwischen der
akademischen Malerei des Genauigkeitsfetischisten Anton von Werner und den Formexperimenten
des Impressionismus und des Jugendstils wiederholte sich auf allen Gebieten
der Kunst und griff auch auf die Gesellschaft über. Experimente gegenbürgerlicher
Kultur florierten, alternative Kolonien und Kommunen entstanden. Aus Protest
gegen die bürgerlichen Erziehungsnormen in Familie und Schule, gegen Unterdrückung
des individuellen Gefühls entstand die Jugendbewegung ("Wandervogel").
Theodor Fontane (1819-1898) ist der Romancier der Berliner Gesellschaft ("Effi
Briest").
(Veränderte Seite des deutschen historischen Museums)